Dienstag, 15. September 2015

Tag 11: Das Gesetz des Stärkeren

In den letzten eineinhalb Wochen haben wir viele Situationen im Alltag und ganz besonders im Straßenverkehr erlebt, wo die staatlichen Regeln durch das Gesetz des Stärkeren ersetzt wurden. Viel mehr als in Deutschland geht es hier jeden Tag darum, in jeder Handlung klarzustellen, welche Position in der Gesellschaft man inne hat. Dadurch scheint es zum Teil, als sei das Mitgefühl und die Rücksicht weniger stark ausgeprägt als bei uns. Gleichzeitig geht fast jeder wöchentlich in die Kirche und gibt einen Teil seines wenigen Geldes in den Klingelbeutel.
Im Straßenverkehr haben Busse Vorrang vor Landrovern, diese vor kleinen Jeeps, welche wiederum vor Pkw und Piki Piki und Fußgängern zuerst eine Bewegung im Straßenverkehr machen können. Das kann nur dadurch verändert werden, indem der Fahrer eines kleineren Fahrzeugs sich dickköpfig quer stellt oder bspw. einfach auf die Kreuzung fährt, um sich die Vorfahrt zu erarbeiten. Das gleiche gilt auch bei Parkplätzen. Einmal hat Ernest, mit dem wir auch auf Safari waren, so stark um einen Parkplatz gekämpft, dass sogar Sicherheitspersonal einer Bank zur Hilfe kam und dem Fahrer eines größeren Autos beinahe mit Gewehren drohen wollte. Das war jedoch zum Glück nicht erforderlich und der Fahrer hat schon vorher den Platz geräumt. Der Straßenverkehr und das Dominanzverhalten ist übrigens in großen Teilen eine reine Männersache und es sind auch besonders die Männer, die ihre Stellung in der Gesellschaft durch ein dominantes Territorialverhalten auf den Teer- und Sandpisten zum Ausdruck bringen wollen. Das ist vielleicht in Deutschland in Ansätzen nicht anders, aber insgesamt scheint mit im Straßenverkehr zum einen die Regeltreue und zum anderen die Rücksichtnahme deutlich stärker ausgeprägt. Was das Geschlechterverhältnis angeht, so erleben ich zumindest in Deutschland eine stärkere Durchmischung der Geschlechter sowohl bei den Dominanten als auch den sich eher anpassenden Autofahrer*innen.
Ein anderes Beispiel zum Thema Rücksicht und Mitgefühl ist das Essen. Mein Eindruck ist in den Familien, in denen wir zum Essen eingeladen sind, dass es weniger darum geht, was Kathi und ich tatsächlich an Nahrung brauchen und was sich die Familien leisten können, als vielmehr darum, den scheinbaren Wohlstand zu präsentieren. Es werden regelmäßig Unmengen an Speisen aufgetischt, die nicht in zwei Malzeiten zu schaffen sind. An vielen Stellen scheinen sich die Familien damit sowohl arbeitstechnisch als auch finanziell vollkommen zu überfordern. Wenn wir dann versuchen zu erklären, dass wir nicht so viel essen können, wird uns dennoch noch mehr angeboten. Unsere Hautfarbe und Herkunft haben mit Sicherheit dabei einen wesentlichen Einfluss und niemand will sich uns gegenüber die Blöße geben, "nur" Ugali, also Maisbrei, aufzutischen. Gleichzeitig wären wir total froh, wenn wir nicht ständig das Gefühl haben müssten, dass extra wegen nur ein riesen Tammtamm veranstaltet wird. Was wir ausgleichend versuchen, ist dann zumindest einen Teil der Speisen vorab einzukaufen, Brot mitzubringen oder im Gegenzug zum Essen in einer Bar einzuladen. Das macht die Sache wahrscheinlich nicht besser und erhöht womöglich sogar den Druck, sich als wohlhabend zu präsentieren, ist jedoch unsere einzige Möglichkeit, einigermaßen unser unwohliges Gefühl zu bearbeiten und gleichzeitig den finanziellen Druck von den Familien zu nehmen.
Ein drittes Beispiel, dass gut dazu passt, sind Beobachtungen, die wir bei den Schüler*innen angestellt haben. Kathi hat als eine Übung versucht, den Gordischen Knoten mit den Kindern durchzuführen. Dabei fassen sich 5-10 Personen kreuzweise an die Hände, sodass ein Gewirr von Armen entsteht. Danach ist es Aufgabe, durch Drehungen und andere Bewegungen einen Kreis zu formen, in dem sich keine Arme mehr kreuzen. Diese Übung erfordert Kooperation, Kommunikation, Koordination und Einfühlungsvermögen, da man möglichst schnell auf andere Personen reagieren muss, wenn es darum geht, ob eine bestimmte Bewegung bei ihnen Schmerzen auslöst, weil zum Beispiel der Arm überdreht wird. Kathi hat nun erzählt, dass es zu Beginn in vier Gruppen unabhängig voneinander so wahr, dass sich alle gleichzeitig gedreht haben und es nur durch klare Hinweise von außen möglich war, die Übung erfolgreich durchzuführen. Dabei spielt natürlich die Sprache auch eine Rolle, aber Gudila war als Übersetzerin und Sozialarbeiterin die ganze Zeit aktiv eingebunden. Vielmehr scheint uns aber, dass koordiniertes Handeln wenig geübt wird in der Schule. Wenn eine Frage gestellt wird, die mit "Ja" oder "Nein" beantwortet werden kann, wenn begrüßt, bedankt oder verabschieded wird, so antworten alle im Gleichtakt. Die Bewegungen zu Beginn und am Ende einer Stunde sind synchronisiert und Abweichungen werden zumindest vor unseren Augen sprachlich sanktioniert. Ob in unserer Abwesenheit noch häufig der Rohrstock zum Einsatz kommt, lässt sich schwer sagen. Offiziell ist die Prügelstrafe in Tansania verboten, viele Lehrer*innen wissen aber schlicht nicht, wie sie ohne dieses Hilfsmittel erfolgreich sanktionieren können.
Es kann gut sein, dass der Mangel an Rücksichtnahme, den wir hier wahrzunehmen glauben, auch eher eine Folge von kulturellen Verständigungsschwierigkeiten ist und Kathi und ich schlichtweg nicht in der Lage sind, in der richtigen kulturellen Sprache unsere Bedürfnisse und Erwartungen auszudrücken und klarzustellen. Je mehr wir essen, was uns aufgetan wird, desto mehr wird uns auftan. Je mehr wir einkaufen, nachdem wir zum Essen eingeladen werden, desto mehr wird uns bei der nächsten Einladung aufgetischt. Heute und morgen haben wir noch Zeit, dem ganzen ein wenig mehr auf den Grund zu gehen. Mal sehen, ob wir das noch verstehen werden.